Pflegende Angehörige finanziell und organisatorisch entlasten

Birte Pauls: Die Formulierung Vereinbarkeit von Familie und Beruf bekommt mit der häuslichen Pflege eine zusätzliche Dimension, der wir gerecht werden müssen.

Bild: Thorsten Pfau

TOP 23+33: Pflegende Angehörige entlasten – ambulante Versorgung sicherstellen und Pflegebegutachtung weiterentwickeln und digitaler gestalten (Drs. 20/480, AltA 20/535(neu), AltA 20/536, 20/504)

„Unter deutschen Dächern und hinter  verschlossenen Türen arbeitet der größte Pflegedienst im Verborgenen: Die Pflegenden Angehörigen. Laut Barmer Pflegereport 2021 waren 148.000 Menschen in Schleswig-Holstein pflegebedürftig  mit einer Steigerung von 15-20% alle 2 Jahre.  Ca. 70 % von ihnen werden ambulant gepflegt, die meiste Zeit von Angehörigen mit Unterstützung von ambulanten Pflegediensten und oder einer Tagespflege. Die Sicherstellung der Versorgung ist und bleibt die große Herausforderung. 9000 Pflegekräfte werden wir bis zum Jahr 2030 mehr benötigen als im Jahr 2020. Das bekommen wir nur hin, wenn wir mehr ausbilden und die Rahmenbedingungen für Auszubildende und Fachkräfte insgesamt verbessern, um Ausstiege zu verhindern. Das Land hat aber keine zentrale Planstelle, die die Quantität von Ausbildungszahlen regelt. Ob wir das schaffen, ist unklar.

Also werden in Zukunft noch mehr An- oder Zugehörige selbst pflegen müssen. Was das für sie bedeutet, vermag man wohl nur verstehen, wenn man es selber erfahren hat. Eine dauernde Zuständigkeit 24/7 – 365 Tage im Jahr ohne Möglichkeiten, sich räumlich oder psychisch zu distanzieren, ist eine massive Belastung und Einschränkung der eigenen Freiheit. Auch wenn Entlastungsangebote angenommen werden, ist man zuständig. Es kann vorkommen,  dass die Tagespflegeeinrichtung anruft und um Abholung bittet, weil der Pflegebedürftige z.B.  mit seiner Demenz aggressiv ist und den Ablauf stört. Der geplante Arzttermin muss dann schon wieder ausfallen. Bei meinem letzten „Runden Tisch Pflege“, zu dem ich regelmäßig in meinem Wahlkreis einlade, haben wir uns mit der Situation pflegender Angehöriger beschäftigt. Drei Angehörige  mussten absagen, weil die Betreuungskraft kurzfristig ausgefallen war. Gesetzlich zugesicherte Entlastung durch Kurzeitpflege, um vielleicht mal Luft zu holen oder sich selber behandeln zu lassen, fällt in Schleswig-Holstein oft aus, weil es von den eingestreuten Plätzen zu wenige gibt  und das Land wenig unternimmt, solitäre Kurzzeitpflege zu organisieren. Hinzu kommt eine enorme finanzielle Belastung. Laut einer Umfrage haben 49 % aller pflegenden Angehörigen  ihre berufliche Arbeitszeit reduziert. Das Einkommen verringert sich, Rentenpunkte gehen verloren, die Altersarmut ist vorprogrammiert, bei pflegenden Frauen ist es jede vierte. Berechnungen zufolge dauert die häusliche Pflege im Durchschnitt 9 Jahre und wird von 1,4 Personen übernommen. Übrigens 300.000 der aktuell gemeldeten Langzeitarbeitslosen, die ALG II und ab Januar Bürgergeld beziehen, sind pflegende Angehörige. Auch sie hat die CDU durch ihre absichtlich unsachliche Debatte zum Bürgergeld hart getroffen.

Angesichts all dieser Zahlen ist es umso wichtiger, die pflegenden Angehörigen zu entlasten – finanziell und organisatorisch. Dafür braucht es natürlich auch die ambulanten Pflegedienste.

Es ist gut und richtig, dass die Tarifbindung endlich in der ambulanten Pflege gilt. Aber sie muss natürlich auch refinanziert werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass Pflegedienste ihre Leistungen einstellen, Pflegebedürftige sich zwischen Körperpflege und Nahrungszubereitung entscheiden müssen. Die ambulanten Dienste haben mit 2 Demonstrationen vor dem Landeshaus auf ihre Situation aufmerksam gemacht. Ich erwarte, dass die Sozialministerin ihrer Verantwortung gerecht wird. Hier gilt es jetzt alle Akteure an den Tisch zu holen und die Refinanzierung durch die Kassen zu organisieren.  Die ambulanten Pflegedienste versorgen knapp 35 800 Personen. Wir können auf keinen Pflegedienst verzichten. Was die von Pflege betroffenen Familien brauchen, ist eine zugewandte, aufsuchende und wohnortnahe Beratungsstruktur.  Gerade in Zeiten wo Familien oft weit voneinander entfernt leben, braucht es diese Form des präventiven Hausbesuches, um Einsamkeit und vorzeitige Pflegebedürftigkeit zu verhindern und über Möglichkeiten zu beraten. Es braucht  sozialpflegerische Fachpersonen die im Quartier vernetzt  sind, so wie die „Gemeindeschwester“ es früher war. Während andere Bundesländer die Community Health Nurse schon längst ausbilden, hinkt Schleswig-Holstein mal wieder hinterher.

Einen wirklichen Überblick über die möglichen Entlastungsangebote zu bekommen, ist sehr schwierig. Laut der Interessenvertretung pflegender Angehöriger „wir pflegen“ werden viele Pflege – und Entlastungsangebote  gar nicht erst beantragt, wodurch den Angehörigen 12 Milliarden Euro jährlich entgehen. Das ist ein guter Grund die persönlichen Beratungen auszubauen statt sie zu anonymisieren und zu digitalisieren, sowie CDU und Grüne es jetzt vorhaben. Besser wäre es die entlastenden Maßnahmen zu bündeln. Es braucht verlässliche, planbare und wohnortnahe Entlastungsangebote durch Tages-Nacht – und Kurzeitpflege.   Deshalb fordern wir die Landesregierung auf, gemeinsam mit den Kreisen regionale Pflegekonferenzen durchzuführen, um rechtzeitig Versorgungslücken zu identifizieren und gegensteuern zu können. Die Formulierung Vereinbarkeit von Familie und Beruf bekommt mit der häuslichen Pflege eine zusätzliche Dimension, der wir gerecht werden müssen.“